Für viele Hamburger Yogis ist die Ashtanga Vinyasa Yogalehrerin Annette Hartwig ein Vorbild.
Nachdem sie vor ein paar Jahren ihr damaliges Yogastudio YogaraumHamburg Richtung Portugal verließ, gab es ein riesiges Schluchzen in der Hamburger Yoga-Szene. Ich habe auch einige Jahre bei Annette Hartwig Unterricht genommen und viel von ihr gelernt. Annette ist eine wunderbare Freundin und eine sehr inspirierende Yogini. Sie gibt zusammen mit ihrem Freund Daniel Schudt weltweit unter dem Namen yoga bija Yoga Retreats und Workshops. Annette Hartwig ist eine langjährige Schülerin der Ashtanga Vinyasa Yoga Ikone Dena Kingsberg. Wir sprachen über Freiheit, Sex und Sehnsucht.
Du bist vor ein paar Jahren ausgewandert. Hast ein Yogastudio und viele Schüler hinter Dir gelassen. Wie fühlt sich Freiheit für Dich an?
Es gibt es immer wieder Momente, die sich verdammt frei anfühlen z.B. wenn ich nachts durch das Busfenster die Sterne blinken sehe, ewig lange auf der Klippe am Meer sitze und mich in der Weite vom Horizont verliere. Frei fühle ich mich auch beim Surfen – wenn die Gedanken und Sorgen an Land bleiben.
Im Bus Europa zu bereisen, an verschiedenen Orten Yoga zu unterrichten und Surfen zu gehen, klingt vielleicht erst mal nach romantischer New-Hippie-Friede-Freude-Auswander-Sorglosigkeit. Und auf jeden Fall ist es ein großer Luxus, relativ selbstbestimmt meinen Tag gestalten zu können. Diese äußeren Umstände geben mir kurzzeitig das Gefühl oder besser gesagt die Illusion von Freiheit, doch frei bin ich ja deshalb trotzdem nicht. Freiheit ist immer relativ. Genaugenommen ist mein Leben jetzt durchstrukturierter als vorher, denn Retreats, Workshops, internationale Gastlehrer sowie Beziehung, Familie und Freunde zu jonglieren bedeutet viel Organisation, Verantwortung und eben auch Kompromisse.
Freiheit entsteht für mich im Kopf. Die Wahl zu haben dem Alltagschaos gleichmütiger zu begegnen anstatt auszuflippen, wenn die Dinge nicht so laufen wie ich mir das vorstelle. Wenn ich es schaffe innerhalb meiner Möglichkeiten oder sogar über meine teils selbstauferlegten Begrenzungen hinaus wach und respektvoll mit mir und anderen umzugehen.Deshalb übe ich ja Yoga. Vielleicht geht es eher um die Frage was mich eigentlich davon abhält frei zu sein? Welche wiederkehrenden Denk-Schleifen, emotionalen Muster, kulturellen und ethischen Vorstellungen, wie auch einengenden Körperhaltungen sind zur Routine und bequemen Gewohnheit geworden?
Das heißt nicht, dass alle Strukturen und Routinen doof sind und über Bord geworfen werden müssen. Natürlich ist mir Halt in Form von täglichen Ritualen wie z.B. Yoga, regelmäßige Mahlzeiten wie auch Geborgenheit in einer langjährigen Beziehung lieb und wichtig. Es ist eher ein Ausmisten von angesammelten Mustern, welche einmal sinnvoll und hilfreich waren, jetzt aber nicht mehr notwendig sind. Viele meiner alten Schüler sehe ich übrigens immer noch regelmäßig wieder. Diese Vertrautheit über einen langen Zeitraum ist sehr schön.
Hast du das gefunden, wonach du gesucht hast?
Seitdem ich denken kann, motiviert und trägt mich eine tiefe Sehnsucht durch das Leben. Diese Sehnsucht fordert Veränderungen heraus und lässt mich meine Angst fast ganz vergessen. Veränderung ist erst mal unbequem, oft auch sehr schmerzhaft. Wenn noch nicht klar ist, wohin die Reise eigentlich geht, entsteht ein sehr intensiver Schwebezustand. Die Karten werden neu gemischt, jede Entscheidung ist total spannend und alles ist möglich. Naja, fast alles. Und die Suche geht immer weiter…
Wir (mein Freund und ich) hatten irgendwann den Wunsch mehr Zeit in der Natur und vor allem am Meer zu verbringen. Für uns war es ein Experiment, mit dem Bus durch Europa zu fahren und dabei unterwegs an den Orten, die uns verzaubern, Yoga zu unterrichten. Gleichzeitig waren wir uns auch einig, dass wir uns keinen Zacken aus der Krone brechen, wenn wir nach einem halben Jahr unverrichteter Dinge wieder in Hamburg landen. Gefunden haben wir wirklich einen Ort, an dem wir uns sehr wohl fühlen: die meiste Zeit des Jahres leben wir im Südwesten Portugals im Naturpark Costa Vicentina. Hier gibt es fantastische Orte für unsere Yoga Retreats, Mysore-Intensives und sobald der eigene Yogaraum steht, können wir auch endlich noch mehr offene Klassen unterrichten.
Verbringst du noch Zeit mit Dena Kingsberg (Ashtanga Vinyasa Ikone aus Australien) ?
Ja, auf jeden Fall! Dena ist seit über 14 Jahren meine Lehrerin und das gegenseitige Commitment und Vertrauen hat für mich einen sehr großen Wert. Beim Ashtanga Vinyasa Yoga ist eine langjährige und intensive Lehrer-Schüler-Beziehung übrigens nichts Unübliches. Die Verbindung zu Dena hat sich mit der Zeit verändert. Ihre Schülerin bleibe ich sowieso immer, das ist mir wichtig. Dazu assistiere ich Dena seit einigen Jahren bei internationalen Retreats und Workshops. Das ist für mich eine wunderbare Möglichkeit ihr wenigstens ein bisschen von all dem zurückzugeben, was sie mir an Wissen, Support und Inspiration über die Jahre mitgegeben hat. Mittlerweile ist sie nicht nur meine strenge Lehrerin und liebvolle Mentorin, sondern auch eine Art Mama und Freundin. Das Beste in mir ist definitiv ein Resultat von dem Üben mit ihr.
Wie sieht ein typischer Tag für dich aus?
Je nachdem, ob gerade ein Retreat/Workshop stattfindet oder nicht, startet mein Tag zwischen 4.30 Uhr und 8 Uhr morgens. Immer mit einem starken Espresso. Ich liebe den Geruch, den Geschmack. Ohne den kleinen Kick am Morgen kommt ehrlich gesagt weder ein Wort aus meinem Mund, noch ein Bein auf die Matte. Das Statement von R. Sharath Jois, dem Enkel von Shri K. Patthabi Jois, ist ja schon ein Klassiker: „No coffee – no prana“. Sehe ich genauso. Nach eigener Yoga-Praxis gibt es bei mir zum Frühstück Obstsalat mit Nüssen oder einen grünen Smoothie. Neben dem Unterrichten verbringe ich den Tag mit Arbeit im Garten, Freunde treffen, langen Spaziergängen mit dem Hund am Strand, Entdeckungstouren durch die Wildnis oder Surfen.
Kannst du vom Unterrichten leben oder musst du dir für die ersehnte Freiheit ein Bein ausreißen?
Heutzutage, wo auf einer Party ungefähr drei von fünf Leuten sagen, dass sie Yogalehrer sind und Schulen in allen Varianten und an fast jeder Ecke entstehen, bedarf es jeder Menge Yogaklassen pro Woche und Durchhaltevermögen, um mit dem Unterrichten einigermaßen über die Runden zum kommen. Die wenigsten Yogalehrer schieben einen gefüllten Goldkarren vor sich her. Sicherlich lässt sich die finanzielle Lage mit Merchandising oder einer Menge an Teacher-Trainings verbessern. Das kann man machen, steht für mich aber ganz hinten auf der Prioritäten-Liste.
Mit Hilfe diverser anderer Jobs hatte ich von Anfang an weder Druck noch Anspruch mich vom Unterrichten zu finanzieren. Mittlerweile kann ich vom Unterrichten leben. Das ist eine unerwartete und noble Fügung, welche ich sehr schätze, die aber nicht essentiell ist. Meine Begeisterung und das Vertrauen in die Ashtanga Vinyasa Methode hat mein Leben wahnsinnig bereichert – und das gebe ich weiter. Sollte sich das eines Tages ändern, mache ich eben wieder etwas ganz anderes.
Wie ist es für dich mit deinem Partner tagtäglich zusammenzuarbeiten? Geht man sich auch manchmal auf die Nerven?
Unsere Basis sind gleiche Interessen wie Yoga, gutes Essen oder Surfen. Vor allem jedoch die Vision, wie wir gerne leben möchten. Umso schöner, wenn wir uns dabei gegenseitig unterstützen und so viele Momente miteinander teilen können. Es gibt natürlich Alltags-Situationen, die wir komplett unterschiedlich angehen und in denen wir uns wirklich nerven. Jede Herangehensweise hat ihre Berechtigung, also geht es dann um die Fähigkeit den Blickwinkel des anderen zu akzeptieren oder einen Kompromiss zu finden. Klingt einfacher als es ist! Da wir beide auch selbst viel Raum brauchen, geht jeder ab und an eigene Wege, macht Urlaub oder eine Fortbildung ohne den anderen. Das fühlt sich sehr gesund an.
Sehnst du dich manchmal zurück nach Hamburg?
Ganz ehrlich, nein. Von klein auf bin ich mit meinen Eltern oft umgezogen und fühle mich eher als Zigeunerbraut mit ausgeprägtem Fern- anstatt Heimweh. Wenn ich zu Besuch in Hamburg bin, freue ich mich immer sehr meine engsten Freunde zu treffen. Manchmal vermisse ich auch die quirlige Großstadt mit all ihren Facetten, Impressionen und Annehmlichkeiten, wie z.B. ein Budni um die Ecke.
Du reist viel. Wo unterrichtest du am liebsten?
Am liebsten hier unten in Portugal. Vom Yogaraum des Retreat Centers, mit dem wir eng zusammenarbeiten, hat man Blick auf den Atlantik. Drishti (Fokus) „Meer“, sozusagen! Die Workshops unterrichte ich in kleinen Studios, wo es entspannt und familiär zugeht. Das ist wie ein Zuhause in der Ferne. In Hamburg ist es das Monkey Mind Studio von den bezaubernden Mädels Sophia und Jette.
Hast du dir beim Yoga schon mal eine Verletzung hinzugezogen?
Ja, aber nichts wirklich Ernstes. Mit Abstand betrachtet war die Verletzung eine hervorragende Gelegenheit den schmalen Grat zwischen „Komfortzone verlassen“ und „Grenzen akzeptieren“ genauer zu definieren. Diese Erfahrung hat mir auf jeden Fall eine andere Dimension von Akzeptanz und Geduld offenbart.
Wie hat sich deine Yogapraxis in den Jahren verändert?
Ich bin viel disziplinierter als früher und gleichzeitig hat mir das tägliche Üben mehr Weichheit mir selbst gegenüber gegeben. Mit den Jahren ist meine Aufmerksamkeit feiner geworden und neben Asanas gefällt mir Vedic Chanting ebenso wie Kirtan – das macht den Kopf genauso frei wie die Asanas. Die verschiedenen philosophischen Ansätze von Yoga finde ich sehr interessant und auch das Stillsitzen genieße ich immer mehr. Vielleicht, weil ich nicht mehr ganz so zappelig bin wie früher.
Gibt es eine Asana, die du als Qual empfindest?
Oh ja, es holpert natürlich immer wieder woanders – das ist eine täglich wiederkehrende Aufgabe. Eine wirkliche Qual ist es aber nur, wenn ich mich im Höher-Schneller-Weiter definiere oder eine feste Vorstellung davon habe, wie die Übung oder ich als Person auszusehen hat. Dann ist nicht die Asana anstrengend sondern meine Einstellung. Wenn ich mich dabei ertappe versuche ich erst recht etwas länger in der Position zu bleiben und das Kopfkino etwas zu beruhigen.
Ist Sex als Yogi freier?
Sex macht Spaß und ist frei, wenn es keine Zwänge, Erwartungen oder Selbstzweifel gibt. Ob das einem Yogi leichter fällt, keine Ahnung! Einfach Sex haben, eben.
Wie lebst du? Haus oder VW?
Mittlerweile sind wir etwas sesshafter geworden und mieten ein kleines Bauernhaus hier in Portugal. Das Leben im Bus ist traumhaft, wenn man Urlaub macht. Auf so engem Raum zwischen Yogamatten, Steuerunterlagen, Massagebank, Surfboards und Hund zu arbeiten und gleichzeitig eine Beziehung zu führen, ist auf Dauer jedoch eine echte Herausforderung. Gleichzeitig ist es sehr beruhigend zu wissen: mehr als das, was in den Bus als mobiles Zuhause passt, brauche ich nicht. Wenn ich das Bus-Leben mal vermisse, packen wir schnell ein paar Sachen ein und campen nicht weit von zu Hause am Strand. Einfach, weil es sich so toll nach Freiheit anfühlt.
Raw Food oder Ayurveda?
Geschmacksexplosionen und Abwechslung sind mir wichtiger als ein dogmatischer Ernährungsstil. Neben Raw Food (liebe ich über alles) gibt es auch gekochte Mahlzeiten oder selbstgebackene glutenfreie Kuchen. Indisches Essen – ist ja nicht zwangsläufig ayurvedisch – wie z.B. Masala Dosa oder ein richtig scharfes Curry finde ich großartig. Und Tiere mag ich lieber in der Natur als auf dem Teller.
Danke ♥
Meet Annette Hartwig:
fotocredit: Yvonne Schmedemann, Daniel Schudt
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2 Comments
magi
16. Mai 2015 at 11:20Danke für das schöne Interview. Ich kann ihre Retreats nur empfehlen. 🙂
Janina Witt
25. Juni 2015 at 16:58Ich kann ihren Unterricht auch sehhhhr empfehlen, eine tolle Lehrerin.