Column

Madhavi & das Leben // Ungefilterte Realität

25. April 2020
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Gestern traf ich das erste Mal seit Wochen eine Freundin auf einen Kaffee. Ich fuhr eisern 50 Minuten auf meinem Drahtesel zur Milchhalle in die Auguststraße, das ist mein liebstes Cafés in Mitte. Dort habe ich immer das Gefühl, im Urlaub zu sein. Auf dem Weg kam ich ganz schön aus der Puste, mir brannten fies die Oberschenkel.

Da wurde mir bewusst, wie lange ich eigentlich gar nicht mehr draußen war. Geschweige denn mich vernünftig bewegt habe. Was wurde ich wieder wild beschimpft von Autofahrern. Mir schlackern immer die Ohren, wenn ich all die ätzenden Wörter höre, die mir an die Birne geworfen werden. Wilder Westen. Das gehört leider dazu. Das kenne ich so arg nur aus Berlin, in keiner anderen Stadt habe ich das bisher erlebt.

Vielleicht bin ich einfach zu langsam. Aber immerhin trage ich immer hübsch artig meinen Helm auf dem Kopf. Einen Helm sollte man grundsätzlich beim Radfahren tragen, der Kopf kann so schnell Matsch sein, wer will das schon.

Auf dem Fahrrad fühle ich mich viel freier als in der U-Bahn. Das geht sicher vielen so. Da ich noch immer keinen Führerschein besitze, bleiben mir nur diese beiden Optionen. U-Bahn oder Fahrrad. Ich könnte auch zu Fuß gehen, aber so viel Zeit habe ich dann doch nicht übrig und so hübsch ist die Strecke nun auch wieder nicht.

Da war doch was

Als ich in der Auguststraße ankam, lief mir eine Bekannte, ich wollte gerade schreiben in die Arme, doch das tat sie leider nicht. Sie rief nur „Hallo Madhavi“ und ging dann weiter, was ich zuerst einen Hauch unhöflich fand, dann verstand, dass wir uns ja gar nicht umarmen dürfen.

Im gleichen Moment stand meine Verabredung strahlend vor mir, etwa drei Meter entfernt und winkte mir zu. Für einen Moment wünschte ich mich wieder zurück nach Hause in meine Höhle. Dort, wo meine Welt noch völlig in Ordnung ist, ich immer alle in Arm nehmen darf – und ich nicht viel von außen mitbekomme.

Wir bestellten einen Coffee-to-go, weil die Milchhalle natürlich noch nicht wieder richtig geöffnet ist. Wir setzten uns auf eine Bank. Jeder an eine Ecke. Das war schon wirklich absurd, ging aber. Erstaunt war ich, wie alle sich gewissenhaft an die neuen Regeln hielten, hatte ich gar nicht erwartet.

Nach zwei Stunden fuhr ich wieder zurück und dachte nach. Auf dem Fahrrad kommen mir generell immer unglaublich viele Ideen. Nun war ich aber einfach nur traurig. Hormonell bedingt, aber trotzdem. Plötzlich wurde mir richtig bewusst, dass einfach gerade nichts mehr so ist, wie es mal war. Das konnte ich bisher gut ausschalten.

Ungefilterte Realität

Ich musste über den fröhlichen Mann nachdenken, der mir seine Obdachlosenzeitschrift verkaufen wollte. Ich hatte kein Bargeld, weil kein Geschäft gerade Bargeld annimmt. Da er auch kein Paypal hatte, konnte ich ihm nichts geben und das brach mir das Herz. Wie viele Obdachlose gerade unter dieser Situation leiden müssen, entweder ist niemand auf der Straße und wenn, dann hat keiner Bargeld, einfach schrecklich.

Zuhause schaute ich kurz auf Facebook, bekam eine Einladung zu einer Veranstaltung mit Außerirdischen, sah, wie sich ein paar Leute über Trump streiteten, eine andere Person sich in Verschwörungstheorien verstrickte, und einer dieser deutschen Überflieger-Mindset-Coaches mir unangenehm einen Online Kurs andrehen wollte, denn jetzt wäre die Zeit, groß zu denken.

Ich war zu müde, mir über den Geisteszustand anderer Leute Gedanken zu machen. Jeder lebt momentan verstärkt in seiner Realität und bringt diese auch gern ungefiltert ins Internet.

Ich habe aufgehört, mich zu wundern und gebe mich dem Jetzt einfach hin und bete, dass wir irgendwann wieder völlig entspannt im Yogastudio auf der Matte herumturnen dürfen. Mein kleines Studio habe ich erst einmal wieder geschlossen. Aber keine Sorge, ich mache alles online weiter!

Jetzt bleibe ich erst einmal wieder zuhause, pflanze Gemüse und Kräuter an, umarme wild meine Familie und freue mich auf meinen Hund, der Ende Mai endlich zu uns kommt.

xxx Madhavi

Madhavi Guemoes
Madhavi Guemoes dachte mit 15, dass sie das Leben vollständig verstanden habe, um 31 Jahre später zu erkennen, dass dies schier unmöglich ist. Sie arbeitet als freie Autorin, Aromatherapeutin, Podcasterin, Bloggerin und Kundalini Yogalehrerin weltweit und ist Mutter von zwei Kindern. Madhavi praktiziert seit mehr als 30 Jahren Yoga - was aber in Wirklichkeit nichts zu bedeuten hat.
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